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Turning and turning in the widening gyre: der Staat hat noch keine Handhabe gegen die Querfront (Update)

Querdenken demonstriert in Berlin, und noch immer sind die Behörden fassungslos, überrascht, zurückgezogen – wir kreisen und kreisen im immer gleichen Strudel. [Letztes Update 31.08.21, 12:40 Uhr]

Es war Demo-Wochenende in Berlin. Das ist jetzt eigentlich nichts Ungewöhnliches für die Hauptstadt. Und letztlich – das kann man am Abend mit Gewissheit sagen – hätten wir einfach den Post vom 01.08. kopieren können, denn die Bilder waren annähernd dieselben. Doch nur annähernd … und bei Querdenken gibt es halt immer was zu sagen.

Gestern und heute waren verschiedene Versammlungen in der Stadt unterwegs, verschiedene Themen, verschiedene Gruppen. Nur eine davon waren die sogenannten Querdenker.

Mehrere Tausend von denen waren in den Straßen Berlins unterwegs, so geschätzt haben sie die Marke von 10.000 nicht geknackt, viele schätzen um die 5-6.000. Weit unter ihren eigenen Erwartungen zum Jahrestag des Sturms der Reichstagstreppe. Und doch zu viele. Der harte Kern von Querdenken, radikalisiert, aufgepeitscht und angetörnt von ihren Chefideologen, denen sie folgen, ohne deren Lügengebilde auch nur annähernd zu durchdringen.

Sie latschten durch die Stadt, „Friede, Freiheit, Demokratie!“ rufend, und merkten nicht einmal, dass sie damit eigentlich nichts fordern. Schließlich ermöglicht es nur eine Demokratie, dass bei einer durch die Versammlungsbehörde verbotenen Demo die Leute ihren Unfug absondern, Anwohner belästigen, den Verkehr stören könne ohne gleich allesamt verhaftet zu werden. Da Querdenker ja teilweise (Weiß-)Russland-Fans sind: schaut doch mal, wie Demos da ablaufen.

Wir alle wissen, dass sie diejenigen sind, die die freie Presse bedrängen und die Polizei nicht ernst nehmen, dass sie einen Dreck drauf geben, was anderer Menschen Rechte sind.

Wäre eigentlich keiner Rede wert, ist nicht neu, lasst die wohlstandsverwahrlosten Spinner halt durch die Stadt latschen, spielt keine Geige? Sie werden nicht die Regierung stürzen, sie werden nicht die Demokratie stürzen, sie werden nicht das System stürzen, sie werden nicht ihre Tribunale abhalten, sie werden belächelt, ausgelacht, isoliert, ausgegrenzt. Kein Problem, mag man sich sagen.

Momentan.

Doch eines darf man bei „Querdenken“ – vom Infektionsgeschehen einmal abgesehen – nicht übersehen: die Querfront marschiert weitgehend ungehindert und unverstanden von den Verantwortlichen. Freie Linke, Die Basis, Neurechte, Ewiggestrige, AfD, sie alle bilden ein gemeinsames Feld, eine Gruppe, die angestachelt von linken wie rechten Medien vom „Demokratischen Widerstand“ bis Compact glaubt, das Volk zu sein. Und deswegen ist es eben doch der Rede wert, was an diesem Wochenende in Berlin passiert ist. Denn die Mitte ist mit unterwegs.

Ungehindert? Unverstanden?

Die Berliner Polizei hat sich weitgehend zurückgezogen. Sie hat sich schwerpunktmäßig darauf konzentriert, das Regierungsviertel zu schützen. Das ist angesichts der Bilder aus dem vergangenen August zwar notwendig, aber es sollte nicht einzige Direktive von Politik und Polizei sein. Wenn der Staat nur noch eingreift, um den Staat zu schützen, dann gehen die Bürger verloren. Denn schnell – und das sehen wir jetzt bereits zum zweiten Mal nach dem 01.08. – verlieren die Behörden dabei die Belange der Bevölkerung aus dem Blick. Die Bilder und Videos von den Brücken, an denen es zu Rangeleien kommt, weil Querdenker versuchen, die Spree zu überqueren, bleiben hängen. Doch sie sind nachrangig für die Bevölkerung und die Touristen angesichts von Bildern wie denen, die einen ungehinderten Querdenken-Demozug in den engen Gassen des Nikolaiviertels zeigen.

Die Polizei hat aufgeben, längst einen Zustand erreicht, in dem es den Verantwortlichen gerade noch mit Mühe und Not gelingen mag, das Gesicht zu wahren. Der Staat schützt nur noch seine Institutionen – wann ist der Punkt erreicht, an dem er nur noch Selbstzweck ist?

Natürlich wird Geisel, Innensenator von Berlin, sich wieder vor die Polizei stellen, dieselbe Polizei, deren UPol- und DPolG-Vertreter in den sozialen Medien keinen Zweifel daran lassen, dass R2G in Berlin ihnen ein Dorn im Auge ist, sogar ein Herr Ostermann aus Dortmund meint, sich da einmischen zu können. Doch das kann nicht darüber hinwegtäuschen, dass das Berliner Polizeikonzept gescheitert ist.

Dabei geht es nicht darum, dass die Polizei es nicht geschafft hat, alle Querdenker aufzuhalten. Das war nicht zu erwarten. Aber dass sie das, was sie selbst angekündigt hat, nämlich die Verhinderung von größeren Aufzügen und größeren Ansammlungen, dass sie das nicht mal im kleinsten Ansatz hinbekommen hat, das läßt doch sehr an der Taktik des Führungsstabes zweifeln. Wenn es denn eine gab. Gab es eine?

Und auch der angekündigten Kaperung anderer Demos hat die Polizei nichts entgegenzusetzen. Und so kam es, wie es kommen musste: Die hilflos-unfähige Polizei der Hauptstadt schafft es nicht, die Grundrechte anderer durchzusetzen, weil sie 5000 Hansel nicht in den Griff bekommt. Andere Demos – angemeldet und mit Hygienekonzept – wurden abgesagt. Oder drücken wir es mal so aus, wie es ist: diese Bürger konnten unter den Augen der Polizei ihr Grundrecht auf Versammlungsfreiheit nicht wahrnehmen.

Andere Demos und Kundgebungen mussten zurückstehen, weil die Polizei es nicht schaffte, die Querdenker im Zaum zu halten. Deren Meinungsfreiheit war der Polizei Berlin wieder einmal mehr wert als die anderer Bürger, die ihre Kundgebung abbrechen mussten.

Richtig. An dieser Stelle wird keine Versammlung stattfinden. Gar keine, auch nicht die, die Leinenzwang für Hunde zum Thema hatte, denn Polizei Berlin hat es nicht geschafft, diese Demo zu schützen und das Recht auf Versammlungsfreiheit dieser Bürger durchzusetzen. Wir interpretieren das einfach mal so, denn das Bild drängt sich auf, drängte sich auch gestern schon in Bezug zu anderen Demos auf, wie dem „Zug der Liebe“ oder die Afghanistan Demo, die warten musste, bis Querdenken abgezogen war.

In den Augen der Menschen in Berlin haben alle Bürger verloren, Querdenken hat gewonnen.

Und die Polizei?

Die Leute haben Angst. Sind genervt. Aber das zählt ja nicht, wenn man als Polizei am Dienstag eine „Pressemitteilung“ herausgeben kann, in der steht, dass man ja ein paar festgenommen habe, ist alles wieder gut. Bis zur nächsten Demo, wo es wieder genauso läuft. So darf Polizei nicht sein.

Wer noch nicht gesehen hat, wie „Arbeit“ unter Einsatzleitung der Berliner Polizei aussieht … bitte:

Zu pomadig, zu uninteressiert. Hauptsache, das leere Regierungsviertel wird geschützt.

Weil sie es genau nicht verstanden haben, wer da gegen sie antritt. Querdenken-Demos sind nicht mehr als lange Protestzüge geplant. Die gehen davon aus, dass die Polizei agiert und haben sich auf eine Guerilla-Taktik verlegt. Aber die brauchten sie ja nicht einmal. Die Polizei gibt sogar zu, dass sie das mit dem scheinbar planlos nicht verstanden haben.

Traurig. Das Fazit zeugt von Dummheit und Ignoranz. Die Querfront will planlos wirken, die Demonstranten wurden per Telegram aufgefordert, den Reichstag zu meiden. Ihr Ziel ist es, das „System“ zu stören, den Verkehr lahmzulegen, andere an ihren Demos zu hindern, die Behörden zu blockieren. Die Polizei mit scheinbar planlosen Aktionen zu zerstreuen und zu beschäftigen. Ist Polizei zu dumm, das zu verstehen? Oder will Polizei alle anderen für dumm verkaufen?

Und so wird die Polizei Berlin ausgelacht, verhöhnt – Querfront marschiert. Und die Bürger verlieren das Vertrauen in die Polizei. Kommen sich die Beamten da nicht langsam blöd vor? Verarscht von ihrem Führungsstab? Reicht es ihnen nicht langsam?

Things fall apart; the centre cannot hold;
Mere anarchy is loosed upon the world,

William Butler Yeats – The Second Coming

Die Behörden tun sich aus unerfindlichen Gründen immer noch schwer mit Querdenken. Lange haben sich verantwortliche Politiker und Behörden bei Extremismus auf die offenen Enden eines herbeiimaginierten Hufeisens gestürzt. Konservative zeigten nach links, Linke nach rechts. Und keiner schaute, was in der Mitte passiert. Und zu guter Letzt zeigt man sich irritiert?

Die Süddeutsche berichtete gestern in einem Artikel über Querdenken. Weil hinter der Paywall wohl weitgehend unbeachtet, schrieben die Autoren:

„In der Öffentlichkeit haben sich Begriffe wie Querdenker oder Corona-Proteste durchgesetzt […]. Der Verfassungsschutz hat einen sperrigeren Begriff für das Phänomen gefunden: ‚Verfassungsschutzrelevante Delegitimierung des Staates“. Hinter dem Wortungetüm steckt die Vermutung, dass dieses Phänomen nicht mehr verschwinden wird, dass eine „Empörungsbewegung“ sich nach Corona den nächsten Anlass suchen wird. […] Mit der Prägung des Begriffs entschieden die Verfassungsschützer zugleich, eine neuen Phänomenbereich im Extremismus zu schaffen. Es sind jetzt fünf: Rechtsextremismus, Linksextremismus, Ausländerextremismus, Islamismus, Querdenker.“

Süddeutsche Zeitung, 28.08.2021, Hervorhebung durch uns.

Es sei das Eingeständnis, dass die alten Muster nicht reichen, um eine neue Entwicklung zu verstehen. Doch durchgesetzt hat sich diese Erkenntnis noch nicht, zu kompliziert ist die Rechtslage, denn die Versammlungs- und die Meinungsfreiheit sind Eckpfeiler der Demokratie, die niemand allzu leichtfertig aufs Spiel setzen möchte. Vor allem nicht vor der Wahl. Und mit dem Uno-Vogel Nils Melzer im Gepäck ist den Querdenkern sogar noch ein „Folter“-Coup gelungen. So bescheuert und durchgeknallt dessen Aktion ist, sie wird in der Polizeiführung ihre Wirkung nicht verfehlt haben. Und das macht es schlimmer.

Und so lavieren sich die Behörden durch Querdenken-Demos, versuchen uns vorher und hinterher ein X für ein U vorzumachen, während die Radikalisierung voranschreiten darf. Während Politiker, deren ureigenste Aufgabe es ist, die Verfassung ihrer Länder oder des Bundes zu schützen, sich noch immer wie Pistorius und Söder, Seehofer und Reul im Hufeisenwurf üben, berichten Polizisten „irritiert“ von Beschimpfungen durch ältere Personen, „die so aussehen wie ihre Großmutter“.

Anderthalb Jahre Querdenken und weder die Beamten noch die Politik hat etwas begriffen. Und Melzer ist eh durch.

„Verfassungsschutzrelevante Delegetimierung des Staates“ ist das klammheimliche Eingeständnis des Verfassungsschutzes, dass althergebrachte Ansichten zum Extremismus nicht mehr passen. The centre cannot hold.

Nach über einem Jahr Querdenken und Querfront haben sie die Strategie zur Stärkung der Querfront noch immer nicht durchschaut, so scheint es. Die extremen Enden werden zurückgehalten, denn man möchte die Mitte erreichen. Man muss schon entscheidend dumm und ignorant sein sein, also Politiker oder Polizeibeamter in Berlin, oder einen schwierigen Teil unserer Geschichte vergessen haben, um diese Strategie nicht zu erkennen. Die Extreme lösen Beißreflexe in der Mitte aus, wenn sie zu aktiv werden. Der bürgerliche Aufmarsch hingegen … nun, die NSDAP gewann Wahlen in der Mitte.

Gut, jeder in der Polizei Berlin würde sich freuen, wenn wir jetzt an dieser Stelle Innensenator Geisel verantwortlich machen würden. Aber der Stadt würden wir damit einen Bärendienst erweisen, denn Geisel – und bitte, man kann von ihm halten, was man will – ist der einzige Innensenator der Republik, der eine Extremismusstelle angeleiert hat bei der Polizei. Wäre es so verwunderlich, wenn die führenden Hauptstadtbeamten ihn deswegen kurz vor der Wahl schlecht aussehen lassen möchten? Die Badendick-Anhänger und UPol-Mitglieder? Wir stellen mal nur Fragen ….

Ist aber eigentlich egal, denn auch in anderen Bundesländern hat die Polizei Querdenken nicht im Griff.

The blood-dimmed tide is loosed, and everywhere
The ceremony of innocence is drowned;

William Butler Yeats – The Second Coming

Zu wenig antifaschistischer Gegenprotest in Berlin? Nein, richtig so. In einer Pandemie sollte man darauf verzichten. Doch noch eines macht das zum korrekten Move: Der Polizei Berlin darf kein Alibi gegeben werden. Wie vergangene Querdenken-Demos zeigten, gingen Berliner Polizisten lieber auf den Gegenprotest los. Fehlender Gegenprotest zeigt die Polizei in ihrer ganzen Hilflosigkeit. Fehlender Gegenprotest verhindert auch, dass Querdenker behaupten können, „Antifa“ habe provoziert. Von daher ist es mal gut, dass es wenig Gegenprotest gab. Geht nicht dauerhaft, klar, aber Polizei muss lernen, dass die Sommerkleidchen zuschlagen können, auf ihre Art.

Die Polizei muss in ihrem kompletten Unvermögen oder Unwillen – beides ist gleichermaßen von Übel – , den Rechtsstaat und die demokratische Grundordnung zu schützen, bloßgestellt werden.

Das geschieht gerade in Berlin. Da kann der kleine Traditions-Kessel am Sonntag Abend, der nur dazu dient, die Polizeibilanz für die Pressemittelung hochzutreiben, auch nichts ändern. Und wer jetzt mit einem: „Ihr wollt, dass die Bullen die wegknüppeln“ daherkommmt, der kennt uns nicht und der negiert, dass Polizei zwischen freundlich begleiten und Gummiknüppel noch andere Maßnahmen einsetzen könnte, um Gruppen zu trennen und Versammlungen aufzulösen.

Ja, der Staat hat es schwer, wenn die ach so unschuldig daherkommenden Großmütter und Frauen in Sommerkleidchen vor ihnen stehen. Der Standard-Polizist erkennt Extremisten nur, wenn sie schwarz gekleidet sind und Bengalos zünden oder Hitlergrüße zeigen, weil man es ihnen so lange so vorgebetet hat. Der Staat hat es versäumt, auf die Mitte zu achten. Und auf die Mitte achten, das heißt nicht, das Gespräch mit „besorgten Bürgern“ von Querdenken zu suchen. Genau nicht. Denn das macht sie zu einem gleichwertigen Gesprächspartner, false balance, es wirkt, als seien die mehr, als sie wirklich sind, sie selbst glauben, sie seien mehr, als sie wirklich sind. Wenn die Querdenker von Millionen reden, dann deswegen, weil der Bezug zur Realität weg ist. Einem ganz winzig kleinen Teil der Mitte, die hier in Berlin auf der Straße ist, ist der Bezug zur Realität weggebrochen. Ein verschwindend geringer Teil der Bevölkerung hält sich für das Volk. Und diskutieren ist allein schon deswegen müßig, gänzlich fehl am Platz ist es, wenn man liest, was der Verfassungsschutz NRW meint. Der sagt nämlich laut Süddeutscher Zeitung in einer 30-seitigen Begründung:

Anders als bei anderen Rechtsextremen [sic!] sei bei den Querdenkern gar nicht klar, was sie eigentlich wollten.

Quelle: Artikel der Süddeutschen vom 28.08.2021

Ja, die gezeigten Hitlergrüße lösen natürlich Reflexe aus bei Beobachtern. Aber das reicht nicht. Denn was die Neurechten und Falsch-Frei-Linken mürbe klopfen, wird der Mitte als Schnitzel serviert. Und das wird nicht weniger werden. Das zeigen Erfahrungen aus der Vergangenheit. Es wird nicht aufhören, das zeigen Anklänge aus den Bubbles, wo jetzt schon Klimawandel als nächstes Thema auserkoren wurde und wo Schiffmann seinen QAnon-Senf dazu gibt.

Längst haben Publizisten und des Extremismus unverdächtige Gestalten begonnen, das Narrativ der Diktatur, des Systemwechsels in die Gesellschaft zu transportieren. Teils aus Dummheit wie Nena, unüberlegt wie Liefers, mit gemäßigten Worten noch, aber meist gezielt, geplant und strategisch wie durch Paul Brandenburg, Volker Bruch und andere. Einige Medien sticheln mit, Bild, Welt, auch der Spiegel, der Nordkurier als regionales Blatt, „Publizisten“ auf YouTube. Eingefleischte Querfrontler wie KenFM jubeln und alle schauen tatenlos zu, wie sich die Querfront die Mitte einverleibt und dann sich radikalisierend ins Extrem treibt. Und das meint leider meist: nach rechts.

Samuel Eckert sagte im letzten Jahr einmal sinngemäß in einem Stream einer Demo: wir müssen erst die Leute in der Mitte abholen, dann können wir das System stürzen. Das war die Erkenntnis, dass der Sturm auf den Reichstag zu früh kam. Beißreflexe wurden ausgelöst, das hat Querdenken geschadet. Aber sie werden keine Ruhe geben.

Zunächst hatte der Verfassungsschutz versucht, aus der Anwesenheit von Rechten bei den Querdenken-Demos auf eine Unterwanderung zu schließen. Heute sagt ein Chef eines Landesamtes: „Diese Szene braucht die Rechten nicht“ (SZ vom 28.08.21). Nein, sie braucht diese kompletten Kategorien von rechts und links nicht. Sie gefällt sich in Selbstermächtigung und löst die alten Einstufungen auf. Viele haben das noch nicht verstanden. Noch immer denken zu viele in Kategorien von rechts und links, auch, um sich selbst abzugrenzen.

Längst hätten wir aufhören sollen in links und rechts zu unterteilen, wenn es um Querdenken geht. Es funktioniert nicht mehr. Linke bezeichnen längst andere Linke als Antideutsche, Rechte lachen, und Querfront marschiert. Längst rufen Querdenker der Antifa „Nazis raus“ entgegen und die schauen dumm, ist doch ihr Text. Und dann dämmert ihnen, dass dies nicht nur eine Schmähung ist, sondern dass die das genauso meinen. Die Querfront sieht sich im Widerstand nicht nur gegen eine angebliche Diktatur, sondern auch gegen ihre Kritiker.

Längst verwischen die alten Begriffe.

Längst möchte man den Verantwortlichen in der Politik zurufen: Wann hört ihr eigentlich mal auf die, die diese Menschen schon länger im Blick haben, die Entwicklung schon seit den Friedensmahnwachen erahnten, warnten? Das sind nicht die Versager in den Behörden und den Ministerien, die keine Ahnung haben. Das sind andere, Gruppen, die sich in ihrer Freizeit den Hintern aufreißen. Und damit sind nicht mal wir von Anonymous gemeint.

Längst warnten sie, schon zu einer Zeit, als HG Maaßen den Verfassungsschutz noch gegen links trimmte und ihm eine Hemianopsie mit Mittellinienverschiebung verpasste.

Längst möchte man fragen, ob es nicht an der Zeit ist, die alte Extremismustheorie ad acta zu legen und Extremismus völlig neu zu denken? Auch in der Politik? Gerade in der Politik. Ob Seehofer der richtige dafür ist, bezweifeln wir stark. Aber versuchen muss man es.

The best lack all conviction, while the worst
Are full of passionate intensity.

William Butler Yeats – The Second Coming

Den Besten fehlt jede Überzeugung, während die Schlimmsten voll leidenschaftlicher Intensität sind? Yeats hat Recht und Geschichte wiederholt sich, wir kreisen im immergleichen Strudel und werden herumgewirbelt. Turning and turning in the widening Gyre.

Noch spielt die Revolution der Querfront auf Demos komische Lieder, noch können wir über einige von denen herzlich lachen, noch tanzen sie ihre Revolution, noch scheint denen der Widerstand unwichtig, wenn Familienfeste anstehen, wie bei Javid-Kistel. Noch werden sie weniger, auch wegen des dämlichen verschwörungsideologischen Dummgequatsche, das sie lächerlich erscheinen lässt. Noch sind sie ein Ärgernis.

Zum Glück haben sie nicht erkannt, dass ihr Verschwörungskram sie selbst bremst, zu tief sitzen sie in ihrem eigenen Sumpf fest. Doch wir erleben das Zeitalter des Salatbar-Extremismus. Und einige Fragen sickern in die Mitte der Gesellschaft, bleiben hängen, wie „Impfzwang“ und unterschiedliche Rechte durch 2G statt 3G.

Es gibt kein vollständig strukturiertes extremistisches Weltbild mehr, jeder nimmt sich von der Bar, was ihm gerade passt. Und das macht eben auch vor der Mitte nicht halt, auch die beginnt, herzhaft zuzugreifen. Dessen müssen sich die Behörden, dessen müssen sich alle allmählich bewusst werden.

90 verletzte Polizisten am Wochenende um den 01.08.? Reicht nicht, um zu verstehen, dass die „ältere Frau“, die aussieht wie die eigene Großmutter die Polizei nicht als Staatsmacht wahrnimmt, sondern als Söldner einer faschistischen Diktatur? Irritierte Polizisten, weil ihr altes Feindbild nicht mehr stimmt, weil Politik und Extremismusforscher über so so viele Jahre falsch lagen?

Wenn sich alle gegenseitig als Nazi bezeichnen, wer ist dann der Nazi? Muss man sich noch wundern?

Quelle: https://twitter.com/Andy_LcL/status/1431650167187443720

Der Artikel in der Süddeutschen schließt mit einem Zitat aus der Begründung des Verfassungsschutzes NRW und den Worten:

[…] mancherorts seien „Diskurse festzustellen, die eindeutig auf einen Staatsumsturz und die Eliminierung der ‚Eliten‘ abzielen. Was danach folgen soll, bleibt vage.“ Beruhigend klingt das nicht.

Nein, aber das tut es schon so lange nicht mehr.

Demowochenende in Berlin. Und weil sich nichts ändert, ändert sich alles.

Anmerkung:
William Butler Yeats schrieb das Gedicht „The Second Coming“ 1919 unter dem Eindruck der Spanischen Grippe, einer schweren Pandemie, und im Nachgang des ersten Weltkrieges. Wir haben einige Zeilen seines Gedichts, das immer wieder in den Bereich der apokalyptischen Sicht sich ständig wiederholender Ereignisse – nach Yeats alle 2000 Jahre – gehoben wird, etwas uminterpretiert und sind uns sicher, dass Billy uns dies verzeiht.
Wir erkennen den „widening gyre“, den sich ausweitenden Strudel, im kleinen bei Demos, aber auch im großen bei Querfront-Strategien.


Update 00:44 Uhr
Der Beitrag wurde um einen kleinen Thread zu einem Kinderfest ergänzt, der exakt das Versagen der Polizei deutlich macht.

Update 30.08.2021, 1330 Uhr

Schöner Kommentar von Olaf Sundermeyer, der sich darum dreht, dass – anders als die Sicherheitsbehörden – sich die Politik nicht mit diesem Häufchen Elend beschäftigen sollte. Sie dürfen nicht erhöht werden durch Erwähnungen in Kanzler-Triells oder durch „besorgte Bürger“-Gespräche am Zaun. Jetzt muss die Polizei noch verhindern, dass sie laut sein können, aufdringlich, übergriffig, aufmüpfig und schlüpfrig, dass sie Verkehrmittel anhalten, Straßen blockieren, Leute belästigen und die Presse angreifen.

Update 31.08.2021, 12:40 Uhr

Wenn man sich fragt, welche Auswirkungen das Herumlavieren der Führungsetagen in den Behörden so hat, dann mag dieses Video helfen.

Quelle: https://twitter.com/ForscherAfDTier/status/1432449666331840513

Der lachende Herr – der mit der Mütze im weißenT-Shirt ab Sekunde 8 etwa -, der dort in dem Video alle die feixenden und lachenden Polizisten so nett findet, ist Michael Bründel aka „Captain Future“ von der „Freedom Parade“, zu der auch der Holocaust-Leugner Resa Begi gehört und die so vielen auf die Nerven geht, weil sie seit Monaten ohne Masken und Anstand „Aktionen“ in Supermärkten und Bahnen machen. Michael Bründel hatte vor der Demo Besuch vom LKA, die bei ihm eine Gefährderansprache vornahmen, über die er sich auch herzlich amüsierte.

Wir gehen mal wohlwollend davon aus, dass 90% der Beamten in dem Video nicht wissen, wer das ist, dann müssen wir die Polizeiführung kritisieren. Denn wüssten die Beamten, wer da vor ihnen steht, dann wäre die Polizei Berlin komplett lost – oder zumindest die 35. Einsatzhundertschaft, die man bei uns aus Videos anderer Demos weniger fröhlich kennt. Und ja, wir würden dann alle über einen Kamm scheren. Auch die Justiz. Denn der Tagesspiegel Berlin berichtete ja unlängst darüber, dass von Seiten der Polizei Berlin und der Staatsanwaltschaft kaum Anzeigen gegen die „Freedom Parade“ verfolgt, sondern Ermittlungen mehrheitlich eingestellt werden.

Haintz, einer, den die Polizei als Rädelsführer bezeichnet, wurde ja auch ohne Platzverweis freigelassen. Wird die Polizei in Berlin ihrer Aufgabe noch gerecht? Haben sie die Lage nur nicht durchdrungen, nicht durchschaut, was passiert?

Es macht den Eindruck. Mal freundlich ausgedrückt. Und sehr wohlwollend. Noch.