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OpTinfoil Querdenken

Ein Jahr Querfront: Ugly Birthday!

Am heutigen 28. März jährt sich die erste Hygienedemo und damit die Entstehung einer Bewegung, die noch immer nicht vollständig verstanden wurde: Querdenken.

März 2021. Wieder ist Demo in Berlin, Darmstadt, Sinnsheim, Passau. Wieder trägt kaum jemand Masken, wieder werden Abstände und Auflagen nicht eingehalten, kein Anstand. Dafür Geburtstagsstimmung bei den Demonstranten von Querdenken.

Heute vor einem Jahr fand in Berlin die erste „Hygienedemo“ statt. Damit markiert der heutige Tag sozusagen den ersten Geburtstag einer Bewegung, die vordergründig gegen die Corona-Maßnahmen der Regierung auf die Straße ging, im Verlauf des letzten Jahres jedoch zu einer Querfront von zunehmend sich radikalisierenden Systemgegnern aus allen Lagern des politischen Spektrums wurde. Gegründet wurden die Hygienedemos von Anselm Lenz, einem ehemaligen Autor der TAZ, die als Zeitung nicht als sonderlich rechts gilt, doch längst heißt diese Bewegung Querdenken, längst ist sie eine Sammlungsbewegung für Menschen aus allen gesellschaftlichen Schichten, längst demonstrieren Leute wie Lenz einträchtig neben dem Volkslehrer.

Querdenken nennt sie sich, Querfront ist sie.

Und noch immer hat kaum einer in den Ministerien wirklich verstanden, dass immer dieselben dort auf den Bühnen stehen und ihren Antisemitismus, ihre wirren Phrasen und ihre gefährlichen Reden von Diktatur und Unterdrückung faseln. Man stellt fest nach einem Jahr Querfront, dass niemand bei den Behörden auch nur ansatzweise begriffen hat, was Querdenken ist, was es will, was es vorhat. Man sieht zu wenig Beamte, die durch Unterzahl überfordert nur noch denken „die oder wir“ und den vermeintlich extremistischen Gegenprotest abräumen, weil Führungsstäbe den Hauptprotest unterschätzen. Vergessen sind die Aussagen von Querdenkern wie Haintz oder Ludwig, man wolle das System beseitigen.

Sie nennen sich eine „Menschheitsfamilie“, die Leute aus dieser Querfront, daher ist links und rechts in ihren Augen unerheblich. Und sie sehen sich im Recht. Ihr Recht. Widerstandsrecht. Gegen eine „Diktatur“, die nur in ihren Köpfen existiert, denn in einer Diktatur würden sie nicht so penetrant demonstrieren dürfen. Das Widerstandsrecht wurde offiziell von Schiffmann und anderen ausgerufen und die Anhänger halten sich daran. Längst gibt es Übergriffe gegen Polizeibeamte – „Söldner der BRD-GmbH“ – wie in Kassel, längst gibt es Drohungen zuhauf gegen unbescholtene Bürger und Pressevertreter. Längst werden Namen und Adressen von „Feinden der Bewegung“ gesammelt, zum Teil veröffentlicht.

Schließlich sieht diese Querfront es auch als ihr Recht an, andere zu missionieren, notfalls mit Gewalt. Masken runter, notfalls mit Gewalt. Pressevertreter einschüchtern, natürlich mit Gewalt und Drohungen. Ältere Menschen vor Impfzentren einschüchtern mit Lügen, Impfzentren angreifen, notfalls mit Gewalt.

Es reicht ihnen nicht mehr gegen etwas zu demonstrieren, sie wollen durchsetzen. Sie wissen, dass sie bei Wahlen keine Chance haben. Deswegen wollen sie zermürben, aushöhlen und spalten mit Versammlung und Spontanversammlungen.

Notfalls mit Gewalt. In den einschlägigen Telegram-Kanälen ist seit Monaten von Bewaffnung die Rede, davon, dass das Gerede auf den Bühnen nicht mehr reicht, dass man losschlagen müsse gegen das System.

Das sind natürlich die Telegram-Kanäle, die in den Führungs- und Beraterstäben der Innenministerien nicht gelesen werden, denn anders ist es nicht zu erklären, dass Polizei noch immer nicht die Taktiken der Querdenken-Querfrontler durchschaut hat. Es ist die bloße Arroganz von Behörden gegenüber eindeutigen Hinweisen auf massive Mobilisierung, die dazu führt, dass die Polizei Nordhessen beispielsweise weniger Teilnehmer in Kassel erwartet hatte, als dann doch kamen. Es hilft halt nicht, wenn Beamte nur Knuddels, StayFriends und ihre eigenen WhatsApp-Gruppen kennen. Telegram hat sich vom Messenger-Dienst in weiten Teilen zum dissozialen Netzwerk entwickelt. Eine Entwicklung, die bei den Führungsstäben noch nicht angekommen ist. Trotz Beobachtung von Querdenkern durch den Verfassungsschutz in zwei Bundesländern. Die sind nicht auf deren Seite, die sind zu dumm.

Aus Hygienedemos wurden im Verlauf des letzten Jahres Querdenken-Demos. Namensgeber ist die Ballweg’sche Querdenkenbewegung aus Stuttgart. Und auch, wenn es sich auf Twitter und in manchen Blogs anders liest, es ist keine Bewegung von Neonazis. Es ist keine Bewegung von nur rechten Covidioten. Querdenker sind keine Coronaleugner. Maßnahmenkritiker sind darunter, natürlich, aber in ihrem Kern ist diese Bewegung antidemokratisch orientiert, wobei sie „demokratisch“ nur anders definiert. Und in ihrem Kern meint: Ja, es sind auch Leute dabei, die wirklich gegen die Maßnahmen sind und es vielleicht nur einfach nicht verstanden haben, was dieses Virus ist. Aber der Kern von Querdenken, der Kern der Querfront ist anders.

Viel wird über Querdenken geschrieben. All zu oft wird vergessen, was Querdenken im vergangenen August eigentlich wollte, weil es überstrahlt wird von Masken-Gerede und Lockdown-Kritik. Was sie eigentlich wollten im August 2020, das war die Durchführung einer verfassungsgebenden Versammlung auf der Straße des 17. Juni über mehrere Tage mit Zeltlager und LKW-Bühnen. Dort sollte dem Land „endlich“ eine neue Verfassung gegeben werden, basierend auf Artikel 146 des Grundgesetzes.

Dort steht

Dieses Grundgesetz, das nach Vollendung der Einheit und Freiheit Deutschlands für das gesamte deutsche Volk gilt, verliert seine Gültigkeit an dem Tage, an dem eine Verfassung in Kraft tritt, die von dem deutschen Volke in freier Entscheidung beschlossen worden ist.

Und da sie der Auffassung sind, dies sei seit der Wiedervereinigung 1990 überfällig, wollen sie diese freie Entscheidung herbeiführen. Im August letzten Jahres scheiterten sie.

Dass die Wiedervereinigung eigentlich gar keine war im rechtlichen Sinne, sondern ein Beitritt der DDR zum Rechtsrahmen der Bundesrepublik, kein Merger of Equals, sondern eine Übernahme, ein Patch-Over, wie man bei den Rockerclubs sagen würde, das wird ignoriert. Fragt man Querdenker, was am Grundgesetz der Bundesrepublik Deutschland so schlecht ist, kommt entweder, es sei keine Verfassung (es ist eine) oder sie sei nicht mehr gültig seit 1990 (ist sie, man beruft sich ja auch trotzdem darauf). Die Wahrheit liegt allerdings woanders: Im derzeitigen Grundgesetz ist der föderale Charakter der Republik, die Tatsache, dass sie aus mehreren Bundesländern besteht, verankert und dies ist durch die Ewigkeitsklausel nicht änderbar. Möchte man also eine zentralistische „Demokratie“ ohne Parteiensystem nach dem Vorbild eines Markus Krall aufbauen, ein Reich nach dem Vorbild der Reichsbürger, ein 4. Reich aus dem feuchten Traum der Rechten, dann geht das mit diesem Grundgesetz nicht. Das sagen die Führungsköpfe der Querdenker aber nicht mehr laut.

Querdenken war nie ungefährlich. Doch es geschieht, was sie sich erhofften, die Hintergründe werden vergessen. Die Protagonisten werden mit Recht vom Verfassungsschutz beobachtet. Nicht wegen der Kritik an Pandemiemaßnahmen, sondern wegen eindeutig verfassungsfeindlicher Bestrebungen. Die Coronamaßnahmen-Kritik, das ist nur die Lok, die sie vor ihre Waggons spannen, damit möglichst viele auf ihren Zug aufspringen. Von verfassungsgebender Versammlung ist nicht mehr laut die Rede, Flaggen des Kaiserreichs werden nicht mehr geschwungen, im August wurde noch vor dem Reichstag das Aufstellen von Galgen für die Politiker gewünscht. Das wird momentan nicht mehr thematisiert. Zu radikal. Auf diesen Zug sind zu wenige aufgesprungen, also erstmal die Schlafschafe wecken, zum Umdenken bewegen, notfalls mit Gewalt und dann das System stürzen. Der Anti-Maßnahmen-Anti-Impf-Zug hat mehr Schwung und kommt schneller in Fahrt. Maßnahmen-Kritik erreicht die bürgerliche Mitte, Impfkritik und Verharmlosung von Corona und Covid19 diejenigen, die ohnehin schon seit der Aufklärung gegen den Bedeutungsverlust ihrer unterlegenen Weltanschauung kämpfen: Christen, Esos, Wunderheiler, Rechtsextreme.

Querfront gegen das System. Heute, am 1. Geburtstag dieser Bewegung, bleibt nur festzuhalten, dass wir sie auch nicht loswerden würden, wenn die Pandemiemaßnahmen von jetzt auf gleich aufgehoben würden. Sie ist zu weit fortgeschritten, hat sich schon zu weit vorgewagt, um zurückzukehren unter den Stein, unter dem sie hervorkrochen ist. Und das nicht nur in Deutschland. Längst sind sie im gesamten D-A-CH-Raum aktiv. Linke, Linskgrüne, Friedensbewegte, Ganzheitliche, Esoteriker, Homöopathiegläubige, Anthroposophen, Antisemiten, Hooligans, Ewiggestrige, AfD-Anhänger, Identitäre, Reichsbürger, Neonazis, sie haben Blut geleckt auf ihrem weitgehend vom überforderten Rechtsstaat ignorierten Weg durch das Jahr. Sie haben gemerkt, dass ihre Bewegung bei den Behörden und Gerichten zu Verwirrung führt. Verwirrung, weil Beamte in Führungsstäben und Innenministerien noch immer verzweifelt versuchen, diese Bewegung in ihr völlig überkommenes und von Nationalsozialisten und Rechts-Konservativen entwickeltes Hufeisenmodell zu pressen. Querdenken profitiert davon, dass es nicht gelingen will, diese Bewegung in eine Extremismustheorie zu pressen, die ihr Haltbarkeitsdatum mehr als überschritten hat.

Die Querfront jubelt, denn solange Behörden diese Bewegung fälschlich als bürgerlich und damit demokratisch einordnen, solange hat sie Oberwasser. Dabei ist sie – und das ist am ersten Geburtstag sonnenklar – eine Querfront aus antidemokratischen Verfassungsfeinden im Sommerkleidchen der Bürgerlichkeit, die oft genug ihre Kinder und die Älteren bei Demos an die Front schicken, wohl wissend, dass die Polizei davor zurückzuckt. Und während vorne die Kinder und Frauen in Sommerkleidchen die Polizei bezirzen und Tante Gertrude mit dem Schirmchen wedelt, können hinten ungestraft antisemitische und holocaustleugnende und umstürzlerische Reden geschwungen werden.

Die Querfront zieht sich von arbeitslos bis selbstständig, von rechts bis links von extremistisch bis gemäßigt. Man kann das Hufeisen drehen und wenden wie man möchte, es passt nicht, und dennoch wollen diese Leute Politiker hängen, die Presse „ändern“ (nach ihren Maßgaben), die Regierung abschaffen, das System stürzen. Impfung, Masken, Corona, alles vorgeschoben bei den Organisatoren. denn das Leute wie Björn Banane und Captain Future tatsächlich an Menschenversuche glauben … für so dumm halten wir sie nicht.

Der 28. März 2021, erster Geburtstag einer Querfront, die antidemokratisch und unsozial bis dissozial agiert. Während diese Zeilen entstehen, hat die Polizei in Sinsheim die Kontrolle verloren.

Und die in Berlin die Veranstaltung wegen Verstößen gegen die Pandemieregeln „beendet“ – aber zunächst nicht nachhaltig aufgelöst. Mit Folgen, denn das sorgt für ein Katz-und-Maus-Spiel mit der Staatsmacht. Regelmäßig, jedes Wochende. Erst jetzt, gegen 17:30 Uhr greift sie etwas durch. Da sind die Querdenker aber schon vom Rosa-Luxemburg-Platz zum Alexanderplatz gezogen.

„Wir sind das Licht“, skandieren die Demonstranten heute in Sinsheim; „Wir sind das Volk“, rufen sie andernorts. Quergida mit Taschenlampe.

Doch wer sich als „Einfach nur dagegen“-Bürger ohne Autorität das Recht herausnimmt, andere Menschen bei der Wahrnehmung eigener Rechte zu behindern, weil er die anderen für dumm oder Schlafschafe hält, wer als Verschwörungs- oder Sonstwieideologe meint, Andersdenkende mit Gewaltandrohung missionieren zu dürfen, wer Mitbürger anpöbelt, weil sie eine Maske tragen, weil sie sich impfen lassen, der ist nicht das Licht, der ist die Hässlichkeit, der Schmutz, die Intoleranz, das Totalitäre im Menschen. Wer das Gemeinwohlorientierte auf dem Altar des dissozialen Egotrippings opfert, der kann nicht das Licht sein.

Und das Volk waren sie nie.

Es gehört zu den Tricks radikaler Minderheiten, sich selbst zum Volk zu erklären.

Richard David Precht

Ein Jahr Querfront.

Ugly Birthday!