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01. Mai 2022 – der erste Tag ohne „Hassmelden“

Die ehrenamtliche betriebene zentrale Meldestelle für Hatespeech hat gestern ihren Service eingestellt.

Als wäre der erste Tag im Mai nicht immer aufregend genug, so kommt für viele Internetnutzer heute noch eine Besonderheit hinzu: über hassmelden.de oder die von Hassmelden zur Verfügung gestellten Apps können keine weiteren Hinweise abgegeben und Beiträge gemeldet werden.

Die Zahl der täglichen Meldungen sei „derart angewachsen“, dass sie „nicht mehr verantwortungsvoll“ mit dem von Hassmelden selbst entwickelten System weiterarbeiten können, wie sie auf ihrer Website schreiben.

Bevor dadurch Schäden entstehen, haben wir beschlossen, entsprechend zu handeln. Wir werden die nächsten Wochen nutzen, uns neu aufzustellen, zu konstituieren, Kraft zu tanken – und wenn möglich gestärkt zurück zu kommen. In dieser Zeit werden wir keine neuen Meldungen mehr annehmen können; bereits abgegebene Meldungen werden von uns jedoch noch wie gewohnt bearbeitet.

Fatal.

Nicht, weil das engagierte Team die Frechheit besitzt, ihr ehrenamtliches Engagement einfach einzustellen. Dafür hat wohl jeder Verständnis. Im Gegenteil kann man den Jungs und Mädels bei Hassmelden gar nicht genug danken, dass sie diese Arbeit, die mit Sicherheit oft Menschen auch an persönliche Grenzen bringt (ja, wir wissen, wovon wir reden), überhaupt so lange und so effektiv gemacht haben. Ohne Bezahlung, in der Freizeit.

Dass sie nicht mehr hinterherkommen, ist nicht ihre Schuld.

Nein, fatal ist, dass sie überhaupt so überrannt werden. Fatal ist, dass wir in einer Gesellschaft leben, die zunehmend derartig verroht, dass Menschen glauben, sie könnten sich alles erlauben. Fatal ist, dass das Recht auf freie Meinungsäußerung und die vermeintliche Anonymität im Internet einige Menschen glauben macht, sie würden bei ihren Posts und Tweets und Toots und Mails über dem Gesetz stehen. Und wenn sie zur Rede gestellt werden, wenn sie auch nur kritisiert werden, beklagen dieselben Menschen Zensur.

Das Konzept von dem Recht auf freie Meinungsäußerung in der Bundesrepublik unterscheidet sich stark von dem der Freien Rede (Free Speech) zum Beispiel in den USA. Free Speech gibt es bei uns nicht. Die Meinung darf man zwar haben, aber bei bestimmten Dingen darf man sie nicht straffrei äußern.

Warum eigentlich nicht?

Nun, der erste Artikel unseres Grundgesetzes, der Basis sozusagen, er lautet: „Die Würde des Menschen ist unantastbar“. Ein schöner Grundsatz. Ein wenig verstandener Grundsatz. Auch von Politikern, Richtern, Polizisten und Staatsanwälten wird dieser Grundsatz oft der Versammlungsfreiheit untergeordnet, dem Recht auf freie Meinungsäußerung. Doch dieser Grundsatz, definiert in Artikel 1 unseres Grundgesetzes, dient dem Schutz der Menschen, die sich unter diesem Grundgesetz zusammengeschlossen haben. Wenn die Würde des Menschen unantastbar ist, müssen alle anderen Rechte sich dem unterordnen. Deshalb kann die Meinungsfreiheit in Deutschland durch Gesetze eingeschränkt werden.

Viele sind der Auffassung – und darunter sind auch Politiker einiger Parteien mit F – das Strafrecht würde über das Ziel hinausschießen und beispielsweise bei Holocaustleugnung und -relativierung zu einschränkend wirken. Doch wir leben in einem Land, das in der Vergangenheit die Würde von Millionen von Menschen mit Füßen getreten und ihre Leben vernichtet hat, einfach, weil einige sich als etwas Besseres fühlten, wegen einer verfehlten und grundfalschen Rassenideologie.

Diese Ideologie, sie tritt heutzutage wieder vermehrt in Erscheinung, auch, aber nicht nur in Form von Verschwörungsideologien und -mythen. Wir finden sie in Telegramposts, wir hören sie auf Reden über NWO und Great Reset auf Demos. Sie befindet sich latent oder offen in den Köpfen der bürgerlichen Mitte. Antisemitismus tötet. Und dem muss Einhalt geboten werden. Nicht aus einem vermeintlichen „Schuldkult“ heraus, sondern weil die Würde des Menschen in unserem Land als unantastbar gilt. Die Würde jedes einzelnen Menschen.

Wer das nicht versteht, sollte gehen. Weit weg. So wie die Antisemiten Javid-Kistel (Mexiko), Schiffmann (Tansania) und Hildmann (Türkei).

Gesetze, sie sind dafür da, unser Zusammenleben auf eine friedliche Basis zu stellen. Klingt vielleicht komisch, wenn ausgerechnet wir das sagen, ist aber logisch, denn die körperliche Unversehrtheit tasten wir nicht an und selbst bei Hildmann – auch wenn es schwerfiel – haben wir einige Dinge nicht veröffentlicht. Denn selbst seine Würde ist unantastbar.

Die freie Äußerung der eigenen Meinung, sie endet da, wo die Rechte anderer eingeschränkt werden oder die Würde des anderen Schaden nehmen könnte. Und das tut sie zurecht. Auch das Recht auf freie Entfaltung der Persönlichkeit endet an diesem Punkt. Nämlich immer dort, wo andere Menschen eingeschränkt werden. Spätestens dann, wenn die Würde angetastet wird. Das Verfassungsgericht war ziemlich angepisst, als Gerichte die Meinungsfreiheit höher bewerteten, als die Persönlichkeitsrechte von Individuen und stellte klar, dass selbst Politiker und andere Menschen des öffentlichen Lebens Persönlichkeitsrechte haben und Hass gegen sich nicht erdulden müssen.

Anonymous setzt sich in vielen Ländern für die Meinungsfreiheit ein. Für das Recht, der eigenen Meinung Ausdruck zu verleihen. Immer, wenn totalitäre Regime die Mechanismen der Meinungsdiktatur ins Rotieren bringen, ist es wichtig und richtig, dagegen vorzugehen. Aktuell in Russland, wo Medien, Oppositionelle und Kritiker mundtot gemacht werden und Demoteilnehmer in Gefängnissen verschwinden.

Doch in diesem Land ist dies nicht der Fall. Auch, wenn Querdenker wie Haintz gerne versuchen, dass zu behaupten – versucht mal eure Stunts in Putins Russland. Freie Meinungsäußerung in diesem Land ermöglicht es einem Manuel Ostermann von der Deutschen Polizeigewerkschaft DPolG, auf Twitter die EU-Grenzschutzorganisiation Frontex für hervorragende Arbeit zu loben, während am selben Tag in einem Spiegel-Artikel dieselbe Behörde der illegalen Pushbacks von Flüchtlingen im Mittelmeer bezichtigt wird. Für viele ist sowas widerlich. Es wirft auch Fragen nach der moralischen Eignung dieses Herren auf und es zeigt beispielhaft, dass die Anforderungen, Polizeibeamter zu werden, nicht sonderlich hoch sind, dass jedoch die Anforderung, ein guter Polizist zu sein, von Ostermann nicht erfüllt werden. Aber er darf es sagen. Es ist nicht strafbar.

Sicher, man muss immer wachsam sein, gegen Uploadfilter und andere Mechanismen vorgehen, auf Fehler in Regelungen wie dem Digital Services Act (DSA) der EU aufmerksam machen, das letztlich sich als Zensurinstrument erweisen kann und wegen seiner grenzübergreifenden Ansätze wohl auch irgendwann würde. Aber darum geht es bei Hatespeech nicht.

Hatespeech ist persönlich. Hatespeech ist zielgerichtet. Hatespeech verhindert, dass andere ihre Meinung sagen können, weil sie sofort mit Hasskommentaren zugeschissen werden. Hatespeech ist die größte Gefahr für die freie Meinungsäußerung auf der einen und mittelfristig auch für die freie Meinungsbildung auf der anderen Seite, weil es eben keine staatliche Repression ist, die man wegdemonstrieren oder vor Gericht kippen kann. Hatespeech ist gewollt schmerzhaft für den, der es abbekommt. Es ist ein gezielter Angriff. Und das macht es gefährlich. Denn wenn die mit der gemäßigten Meinung sich nicht mehr trauen, dann gewinnen die mit der extremistischen Meinung.

Deswegen ist es fatal, dass Hassmelden für den Moment nicht weitermacht. Nicht weitermachen kann. Viele der Delikte, die von Hassmelden zur Anzeige gebracht wurden, sind Offizialdelikte. Es ist die Aufgabe des Staates, diese Delikte zu verfolgen, auf Strafbarkeit zu prüfen und ggf. zu bestrafen.

Wir hoffen wirklich, dass Hassmelden einen Weg findet, zurückzukommen. Denn dem Staat – sorry – trauen wir ein solches Vorgehen und Vorsortieren nicht zu. Zu oft wurde in der Vergangenheit Strafbarkeit einfach verneint, so in Halle bei Liebich oder durch die Staatsanwaltschaft in Cottbus bei Hildmann. Ein solches Angebot wie von Hassmelden, das kann der Staat nicht leisten, schon aus Kapazitätsgründen nicht. Aber er sollte es wenigstens finanziell so ausstatten, dass es Bestand hat.

Während also Hassmelden eine wohlverdiente Pause macht, kann man auf HateAid ausweichen. Die bieten eine ähnliche App, mit der man Beiträge melden kann, die „MeldeHelden“-App – im Google Playstore und im Apple AppStore erhältlich. Und sie bieten ein Formular, bei dem man auch ohne Angaben von Daten Beiträge melden kann. Wir können derzeit nicht über Erfahrungen mit HateAid auf diesem Gebiet berichten, aber vielleicht bekommen die Macher der Website es ja mal hin, dass nicht die Spende per PopUp im Vordergrund steht, sondern der Kampf gegen HateSpeech.

In diesem Sinne: einen schönen 01. Mai.