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Warum uns SCOTUS Angst machen sollte – Moore v. Harper

In der deutschen Presselandschaft war die Entscheidung des US Supreme Courts zu Roe v. Wade ein Aufreger, eine kleinere, weitgehend unbeachtete Meldung sollte uns aber regelrecht Angst machen: die zur Anhörung im Fall Moore v. Harper.
Eine Entscheidung in dem Fall könnte festlegen, ob US-Präsidenten weiterhin gewählt werden … oder einfach ernannt werden können.

Wir machen heute entgegen unserer sonstigen Gewohnheiten einen Ausflug in die US-amerikanische Verfassung – und Verfasstheit. Denn was der Supreme Court of the United States (SCOTUS) gerade abliefert ist nicht nur wegen Roe v. Wade einiger Beachtung wert, sondern auch aufgrund scheinbar kleinerer Terminentscheidungen. Und das nicht, weil Morgen der 4. Juli ist, der Independence Day, sondern weil es indirekt auch uns betrifft.

Schon Roe v. Wade war schlimm, denn der Supreme Court entzog den Frauen Rechte, die er ihnen selbst 50 Jahre zuvor zugestanden hatte. Im Grunde ein Sieg der christlichen Rechten, und das, obwohl die sich erstmal gar nicht für Abtreibungsrechte interessiert hatte in den Jahren nach der Entscheidung, sondern erst Jahre später dazu mobilisiert wurde.

Doch bei einer anderen Entscheidung geht es nicht um Rechte einer Gruppe, sondern um die Demokratie in den USA an sich:

Der US Supreme Court hat angekündigt, schon im kommenden Term den Fall Moore v. Harper anzuhören. Dabei geht es vordergründig um das sogenannte Gerrymandering, doch es hat noch sehr viel weitreichendere Implikationen.

Die US-amerikanische Demokratie beruht in weiten Teilen auf einem Mehrheitswahlsystem. Dabei gewinnt bei der sogenannten relativen Mehrheitswahl der Kandidat einen Wahlkreis, der die meisten Stimmen auf sich vereint, die Stimmen für den anderen Kandidaten verfallen vollständig. Das unterscheidet die USA maßgeblich von uns, denn wir haben bei den meisten Wahlen das sogenannte Verhältniswahlrecht. Einzig bei Bürgermeister- und Landratswahlen findet das „absolute Mehrheitswahlrecht“ Anwendung, bei dem der Kandidat gewählt ist, der mehr als 50% der Stimmen auf sich vereinigt.

Gerrymandering macht sich das Mehrheitswahlrecht zu Nutze, indem durch parteipolitisch geprägte Änderung der Wahlkreise, also die Verschiebung der Grenzen des Wahlkreises, Einfluss auf die Ergebnisse genommen wird. So hat die Republikanische Partei in vielen Bundesstaaten die sogenannten Electorial Maps so abgeändert, dass sie selbst bei Wahlen profitieren. Möglich wird dies dadurch, dass Wähler sich für jede Wahl registrieren müssen und die Parteizugehörigkeit bekannt ist, nicht nur aufgrund alter Wahlergebnisse. Auch in North Carolina wurde dies versucht, hier hat jedoch der Oberste Gerichtshof des Bundesstaates die neue Map kassiert.

Und genau darum geht es in Moore v. Harper.

Die Gesetzgeber in North Carolina haben den US Supreme Court angerufen, weil sie der Auffassung sind, die Art, Zeit und Orte einer Wahl, vor allem aber die Wahlmänner für die Präsidentenwahl zu bestimmen, das obliege allein ihnen und kein Gericht dürfte dort dazwischenfunken. Das wird in den USA „Independent State Legislature Doctrine“ oder „Independent State Legislature Theory“ (ISLT) genannt und man beruft sich dabei auf die Verfassung der USA. Vordergründig geht es also darum, dass der NC Supreme Court das Gerrymandering gar nicht untersagen dürfe, im Hintergrund geht es jedoch um viel mehr: um das Präsidentenamt.

Die „Independent State Legislature Theory“ – um die es hier eigentlich geht – ist eine umstrittene Auslegung der Verfassung der Vereinigten Staaten, die in den letzten Jahren von einer Gruppe von Befürwortern vorangetrieben wurde und den bundesstaatlichen Gesetzgebern weitreichende Befugnisse bei der Erstellung von Wahlkarten (Gerrymandering) und der Verabschiedung von Gesetzen zur Wählerunterdrückung einräumt. Sie wurde sogar als politischer Deckmantel benutzt, um zu versuchen, Wahlen zu annullieren.

In der US-Verfassung ist in Artikel II Abschnitt 1 geregelt:

Jeder Staat ernennt auf die Art und Weise, die der Gesetzgeber festlegen kann, eine Anzahl von Wahlmännern, die der Gesamtzahl der Senatoren und Repräsentanten entspricht, auf die der Staat im Kongreß Anspruch hat; aber kein Senator oder Repräsentant oder eine Person, die ein Vertrauens- oder Gewinnamt in den Vereinigten Staaten innehat, darf zum Wahlmann ernannt werden.

Der Gesetzgeber ist das Parlament des Bundesstaats. Es darf bestimmen, wie die Wahlmänner festgelegt werden. Vom Volkeswillen, dem „will of the People“ steht dort nichts. Und hier beginnt das Albtraumszenario, dass die USA die Demokratie kosten kann.

Die Verfassung überträgt den Bundesstaaten die Befugnis zur Durchführung von Bundeswahlen, die vom Kongress außer Kraft gesetzt werden können. Es besteht jedoch Uneinigkeit darüber, wie viel Macht übertragen wird und an welche staatlichen Akteure genau.

Es gibt zwei relevante Klauseln. Die eine ist die Wahlklausel, in der es heißt: „Die Zeiten, Orte und die Art und Weise der Abhaltung von Wahlen für Senatoren und Repräsentanten werden in jedem Bundesstaat von der jeweiligen Legislative vorgeschrieben; der Kongress kann jedoch jederzeit per Gesetz solche Vorschriften erlassen oder ändern.“

Die andere ist die Klausel über die Wahl des Präsidenten, die wie folgt lautet: „Jeder Staat ernennt auf die Art und Weise, die sein Gesetzgeber vorschreibt, eine Anzahl von Wählern.

Der Streit dreht sich darum, wie das Wort „Legislative“ zu verstehen ist. Seit langem wird davon ausgegangen, dass es sich auf die allgemeinen Gesetzgebungsverfahren eines jeden Bundestaates bezieht, einschließlich aller üblichen Verfahren und Beschränkungen. Wenn also die Verfassung eines Bundesstaates vorsieht, dass Gesetze durch ein Veto des Gouverneurs oder ein Bürgerreferendum blockiert werden können, dann können auch Wahlgesetze mit denselben Mitteln blockiert werden. Und die Gerichte der Bundesstaaten müssen sicherstellen, dass die Gesetze für Bundeswahlen wie alle anderen Gesetze mit der Verfassung des jeweiligen Staates übereinstimmen.

Die Befürworter der Independent State Legislature Theory lehnen diese traditionelle Lesart ab und bestehen darauf, dass diese Klauseln den bundesstaatlichen Gesetzgebern die ausschließliche und nahezu absolute Befugnis zur Regelung von Bundeswahlen geben. Das Ergebnis? Wenn es um Bundeswahlen geht, stünde es den Gesetzgebern frei, gegen die Landesverfassung zu verstoßen, und staatliche Gerichte könnten sie nicht daran hindern. Nicht einmal der jeweilige Supreme Court des Bundesstaates.

Was hat das zur Folge?

Die ausschließliche Befugnis würde dramatische Änderungen in der amerikanischen Wahllandschaft nach sich ziehen. Nicht nur könnten die Gesetzgeber in den Bundesstaaten die Wahlkarten nach ihren Vorstellungen und zum Vorteil ihrer Partei ändern – in den meisten Bundesstaaten sind Republikaner die Gesetzgeber -, sie könnten auch den Willen des Volkes missachten und mit einem bloßen Hinweis auf „Wahlbetrug“ die Wahl annullieren und eigene Wahlmänner ernennen.

Wer das Theater am 06. Januar 2021 mitbekommen hat: Die Forderung an Mike Pence, den damaligen Vizepräsidenten, alternative Electoral Votes aus einigen Staaten anzunehmen und die eigentlichen zu de-zertifizieren, basierte genau darauf. Einige Staaten hatten offensichtlich alternative Wahlmännerstimmen vorbereitet.

Die nächste Wahl eines Präsidenten könnte – wenn der US Supreme Court der „Independent State Legislature Theory“ (ISLT) in der Lesart zustimmt – eine einfache Ernennung werden. Dann könnten die Gesetzgeber in den Bundesstaaten die Wahlergebnisse verwerfen, einfach Wahlmänner ernennen und damit wäre die Situation die, dass bei einem Wahlkampf Biden vs. DeSantis beispielsweise das Popular Vote missachtet würde und von den „Gesetzgebern“ in den Bundesstaaten „ernannte“ Wahlmänner für DeSantis stimmen würden – obwohl Biden vielleicht die Mehrheit der abgegebenen Stimmen im Bundesstaat hatte.

Das betrifft momentan vor allem die Swing States und Battleground States, bei denen Republikaner die Mehrheit im Parlament haben, unabhängig davon, wer Gouverneur des Staates ist. Die Gesetzgeber dieser Bundesstaaten könnten willkürlich entscheiden, dass jemand die Wahl gewonnen hat, der nach den Votes gar keine Mehrheit der Wahlmänner im Electoral College verdient hätte.

Goodbye democracy!

Der Republikaner, der das in North Carolina ins Rollen brachte, vertrat 2020 die von Trump lancierte Lüge rund um „Voter Fraud“, die Big Lie vom großen Wahlbetrug.

Das Problem ist: mindestens vier der 9 Judges favorisieren die Lesart der ISLT, Clarence Thomas, Samuel Alito, Neil Gorsuch und Brett Kavanaugh, die erzkonservativen, reaktionären Richter, von denen zwei in Kongressanhörungen vorgaben, das Präzedenzrecht zu achten und Roe v. Wade dennoch kippten. Zusammen mit der dritten von Trump ernannten Richterin Amy Coney Barrett wären es schon 5. Insgesamt haben 6 der 9 Richter zugestimmt, den Fall im Herbst anzuhören – und im Extremfall nähmen sie direkten Einfluss auf die Präsendentschaftswahl 2024.

Sollte es so kommen, steht die US-amerikanische Demokratie am Scheideweg. Das Land, das sich selbst als Paradebeispiel der Demokratie sieht, hätte keine mehr.

Muss uns das interessieren? Was gehen uns die USA an? Roe v. Wade betrifft uns ja auch nicht?

Falsch.

Sowohl Roe v. Wade als auch der Fall hier betreffen uns – in unterschiedlichem Maße. Bei Roe v. Wade ging es um die Abtreibungsrechte und auch in Deutschland gibt es Bestrebungen von Evangelikalen und anderen Christen, diese Rechte zu kassieren und mehr. Aber auch Moore v. Harper betrifft uns indirekt, denn so, wie wir uns in der Energiepolitik von Russland abhängig gemacht haben, sind wir als Europa sicherheitspolitisch von den USA abhängig. Niemand wird es gern hören, aber die Bundeswehr ist nicht in der Lage, dieses Land zu verteidigen. Die Armeen in Europa sind nicht in der Lage, Europa zu verteidigen. Und Donald Trump hatte während seiner Präsidentschaft bereits Nato-Beistandsklauseln und Truppenstationierungen infrage gestellt.

Doch ein weiterer Punkt sollte uns umtreiben: wenn die USA damit beschäftigt sind, ihre Demokratie zu retten, wenn sie innerhalb ihrer Republik einen Kampf nach dem anderen ausfechten, wenn ständig das Damoklesschwert des Bürgerkriegs über diesem Land schwebt … wie gut können wir uns als Alliierte auf die USA verlassen?

Darüber hinaus: Es gibt einen unbestreitbaren Zuwachs an rechtsskonservativen, reaktionären Parteien und einen Zuwachs an Stimmen für deren anti-demokratischen Positionen, fällt die Demokratie in den USA, hätte das einen immensen Schwung für diese Positionen auch in europäischen Staaten zur Folge. Rechtskonservative Parteien und Ideologen würden zumindest versuchen, dieses Momentum zu nutzen.

Wir müssen uns schleunigst selbstständiger machen. Als Nation und natürlich als Europa in Gänze, denn keine Nation widersteht allein. Und deswegen sollten Politiker der Regierungen in Europa, Demokraten auf der ganzen Welt einen sehr, sehr bangen Blick auf diese Entwicklungen rund um SCOTUS werfen.

Was in den USA gerade geschieht, wird in Europa unterschätzt.

weitere Informationen:

Breaking and Analysis: Supreme Court Will Hear Moore v. Harper, the Independent State Legislature Theory Case from North Carolina; This Case Could Severely Curtail the Ability of State Courts to Protect Voting Rights and Stop Partisan Gerrymandering – Analyse von Rick Hasen, Rechtsprofessor

Election Law Experts Sound the Alarm About ‘Extremely Dangerous’ Voting Rights Case the Supreme Court Just Agreed to Hear – Artikel auf Law & Crime

What is Moore v. Harper? Experts say the next big Supreme Court case ‚could provide the path for election subversion‘ – Artikel auf businessinsider.com

Justices will hear case that tests power of state legislatures to set rules for federal elections – The SCOTUS-Blog

A new Supreme Court case threatens another body blow to our democracy – Kommentar Wahington Post

The Nightmare Scenario SCOTUS is Plotting For the 2024 Election Takeover – Twitter Thread

Today’s news that the Supreme Court is taking up the Moore v. Harper case ahead of 2024 should scare the hell out of all of us. – Twitter Thread