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Twitters Transparenz beim NetzDG

Twitter und das NetzDG … aufeinanderprallende Welten, pure Ignoranz oder gewollte Provokation?

Twitter Deutschland ist durchgespielt. Die Grafik ist Mist, die cutscenes murksig, die NPCs sind träge, die Bedienung unter aller Kanone, der Support arrogant. Und wenn man kurz vor dem Endgegner steht, stürzt das Spiel ab und man fliegt raus.

Spaß beiseite! Machen wir uns das bewusst: Ein großes Unternehmen, das international agiert, betreibt eine internationale Social Media Plattform. Diese Plattform ist in Deutschland naturgemäß Gesetzen unterworfen, Gesetzen wie dem NetzDG, dem Netzwerkdurchsetzungsgesetz, und anderen. Darüber hinaus hat Twitter eine Reihe eigener Richtlinien, gegen die man tunlichst nicht verstoßen sollte.

Für die Einhaltung der Gesetze und Richtlinien ist eine Truppe von Angestellten von Twitter zuständig, die … ja wo eigentlich? … irgendwo sitzen, Meldungen zu Tweets kontrollieren und selbsttätig abwägen, ob Gesetze oder Richtlinien verletzt werden.

Man kann sich darüber aufregen, dass es einfachen kleinen Angestellten auferlegt wird, rechtlich über Tweets zu urteilen. Ja, eigentlich darf in Deutschland nur ein Richter eine solche Entscheidung fällen, aber der Gesetzgeber hat in einem Anfall von Aktionismus eben dieses NetzDG beschlossen. Nun ist es aktiv. Deshalb können wir darüber nicht meckern, dass diese Leute, die keine entsprechende Ausbildung haben, ein rechtliches Urteil fällen müssen im Hinblick auf so ziemlich die schwierigsten Paragraphen unseres Strafgesetzes und unter Berücksichtigung der Meinungsfreiheit.

Ungeachtet aller Kritik am NetzDG selbst, muss man also schauen, wie Twitter das umsetzt.

Wir beobachten bereits seit längerer Zeit, wie Twitter Deutschland mit Tweets umgeht, die gemeldet werden. Uns erreichen zahlreiche Mails, in denen Fälle dargestellt werden, bei denen Twitter Deutschland keinen Grund zur Beanstandung sieht, es aber bereits einschlägige Urteile und Strafbefehle gibt.

Ein Beispiel ist das bei Querdenkern beliebte Bild des Eingangstores des Vernichtungslagers Auschwitz-Birkenau, über dem in eisernen Lettern einst „Arbeit macht frei“ prangte. Viele Querdenker haben dieses Bild in veränderter Form geteilt: aus „Arbeit macht frei“ wurde „Impfen macht frei“.

Einige von uns wissen aus eigener Erfahrung, dass Twitter damit kein Problem hatte, solche Tweets wurden einfach nicht gesperrt. Und das, obwohl bereits dieselben Tweets über hassmelden.de erfolgreich zur Anzeige gebracht wurden. Staatsanwaltschaften sehen das nämlich anders. Zumindest die in Frankfurt.

Holocaust-Leugnung oder Holocaust-Relativierung – das ist als Volksverhetzung in Deutschland strafbar gemäß §130 StGB. Und so befand auch bereits mindestens ein Gericht, und dabei ging es nur um ein Pappschild, auf dem „Impfen macht frei“ stand, nicht einmal um das Bild mit dem KZ-Tor.

Im Mai vergangenen Jahres hatte ein Mann auf einer Demonstration gegen die Corona-Maßnahmen ein Schild in die Höhe gehalten, auf dem der Slogan „Impfen macht frei“ stand. Nun hat er einen Strafbefehl wegen Volksverhetzung akzeptiert. 

https://www.badische-zeitung.de/impfen-macht-frei-schild-in-freiburg-urteil-wegen-volksverhetzung-rechtskraeftig–203959646.html

Aber auch in München wollen Staatsanwälte dagegen vorgehen.

Bislang hat die Justiz wenig dagegen getan. Jetzt unternimmt die Generalstaatsanwaltschaft München einen beachtlichen Schritt. Am Freitag haben Beamte bei einem 45 Jahre alten Münchner geklingelt und seine Wohnung durchsucht. Smartphones und Computer nahmen sie mit. Dem Mann wurde der Vorwurf der Volksverhetzung eröffnet. Auf seiner Facebook-Seite hatte er ein zweigeteiltes Bild gepostet, auf dessen unterer Hälfte der Eingang des Konzentrationslagers Auschwitz mit den Worten „Arbeit macht frei“ zu sehen war. Darüber eine Zeichnung mit „Impfen macht frei“, sowie eine Reihe von schwarz Uniformierten mit riesigen Spritzen in der Hand. „Alles schon mal dagewesen“, stand daneben.

https://www.sueddeutsche.de/politik/corona-impfgegner-rechtsextreme-antisemitismus-1.5362745

Aber warum hat Twitter, vom NetzDG dazu getrieben, Hassrede einzuschränken, kein Problem mit solchen Tweets? Weil sie einer us-amerikanischen Firma gehören und damit „Free Speech“, Freie Rede, propagieren? Weil sie den Unterschied zwischen freier Rede in den USA und freier Meinungsäußerung in Deutschland nicht verstanden haben?

Oder weil es sie einen Scheiß interessiert?

Schauen wir doch mal auf Zahlen.

Ganz leise hat Twitter einen neuen Transparenzbericht zum NetzDG herausgegeben. Kein Tamtam, keine Journalisten eingeladen, nicht mal getwittert haben es die eigenen Leutz, wie der Kommunikationsdirektor Christof Schmid … war ihm wohl nicht unterhaltsam genug, das ist ja eher seine Branche, die Unterhaltung … oder er ist halt doch nur für Werbekunden und Marketing zuständig.

Ist auch eigentlich etwas, das man als Unternehmen, das einem unliebsamen Gesetz unterworfen ist, lieber unter den Tisch fallen lässt, dieser Bericht, sieht auch gar nicht hübsch aus. Er sieht sogar noch übler aus als der vom letzten Halbjahr. Wollen wir mal schauen?

Zahlen … gähn? Nö.

Gut, insgesamt gingen im 1. Halbjahr 2021 genau 774.888 Meldungen von Twitter-Usern ein, hinzukommen 58.514 Meldungen von Beschwerdestellen, wobei hier explizit darauf hingewiesen wird, dass es sich bei der Angabe „Beschwerdestelle“ um eine Eigenangabe von Usern handelt, da dies beim Meldeformular zur Auswahl steht. Nur 0.2% seien tatsächlich von Bewerdestellen, sagt Twitter. Und bei so einem kleinen Segment kann man die Zahlen schon fast zusammenrechnen. Wir machen das mal nicht, sondern nehmen mal die explizit als User-Meldungen ausgewiesenen, die Zahlen der „Beschwerdestellen“ sehen für Twitter eh ähnlich schlecht aus.

774.888 Meldungen gesamt zwischen dem 01.01. und dem 30.06.2021
755.696 Meldungen gesamt zwischen dem 01.07. und dem 31.12.2020

Das macht ein Plus von 2,4%.

Jetzt die Meldungen, bei denen Twitter eine „Maßnahme“ ergriffen hat:

II. Halbjahr 2020: 113.646
I. Halbjahr 2021: 77.158

Nochmal?

2020: 755.696 Meldungen, 113.646 Maßnahmen, 15,03%
2021: 774.888 Meldungen, 77.158 Maßnahmen, 9,96%

Und nein, wir haben uns nicht verguckt, sondern es dreimal geprüft.

Während also die Anzahl der Meldungen um 2,4% stieg, fiel der Anteil der gemeldeten Tweets, bei denen Twitter eine Maßnahme ergriff, von 15,03% auf 9,96%. Insgesamt wurden bei steigenden Meldungen nur halb so viele Maßnahmen ergriffen, wie im Halbjahr davor. Eine Erklärung liefert Twitter dafür nicht. Ist wohl auch eher besser so.

Und wohlgemerkt: das sind nur Tweets, die nach dem Netzwerkdurchsetzungsgesetz gemeldet wurden. Transparenz bei Tweets, die nicht nach diesem Gesetz gemeldet wurden: Fehlanzeige.

Für diese nach dem NetzDG gemeldeten Tweets hat Twitter immerhin

ein spezialisiertes Team aufgebaut, das sich aus Personen zusammensetzt, die insbesondere für die Bearbeitung von NetzDG-Meldungen geschult wurden. Dieses Team besteht aus verschiedenen Gruppen, die auf diversen Ebenen agieren. Je höher die Ebenen, desto erfahrener oder spezialisierter sind im Generellen die Mitarbeiter*innen. Alle Mitglieder des Teams, die deutsche NetzDG Beschwerden bearbeiten, sprechen fließend Deutsch und müssen eine Eignungsprüfung in deutscher Sprache durchlaufen.

Quelle: Twitter-Transparenzbericht 01.01.2021-30.06.2021 (PDF)

Aha. Spannend. Wer sich also durch die ersten 19 Seiten des 30-seitigen Transparenzberichts gewühlt hat, der erfährt dann mal was über dieses Team. Zum Beispiel, dass es – das NetzDG-Team – aus 150 Personen besteht, von denen rund 21% (31.5 Personen) direkt bei Twitter beschäftigt sind, der Rest ist bei einem „Vertriebspartner beschäftigt, der auf Outsourcing im IT-Bereich spezialisiert ist.“

Es ist also tatsächlich so, dass bei Twitter Leute über die NetzDG-Meldungen entscheiden, die gegebenenfalls in einem Billiglohnland sitzen und lediglich eine irgendwie nicht näher definierte „Eignungsprüfung“ in deutscher Sprache durchlaufen. Damit hier keine Missverständnisse aufkommen: Niemand hat etwas dagegen, dass Menschen im Ausland unsere Tweets lesen und bewerten. Und wahrscheinlich sind ihre Deutschkenntnisse super und für normale Meldungen ausreichend. Aber inwieweit reicht es, um Feinheiten der deutschen Sprache zu erfassen? Ironie, Wortspiele, Anspielungen? Mag sein, dass das eine tolle Truppe ist, aber bekommen sie tatsächlich jede volksverhetzende Anspielung mit? Kennen sie Gesetze, Urteile, aktuelle Rechtsprechung?

Es scheint nicht so. Und das liegt ganz bestimmt nicht an denen, die die Meldungen bewerten sollen, sondern eher an denen, die die Schulungen vornehmen. Seien wir mal ehrlich: sogar mancher Deutscher, dessen Muttersprache deutsch ist, tut sich schwer mit Wortspielen und Anspielungen. Wie lange hat es gedauert, bis sich bei Twitter durchgesetzt hat, dass das Tor von Auschwitz mit dem Schriftzug „Impfen macht frei“ der Holocaustrelativierung und damit der Volksverhetzung zuzuordnen ist? Gerichte fällten bereits Urteile dazu. Oder der gelbe „Ungeimpft“-Stern. Was jetzt? Das hat sich noch nicht durchgesetzt bei Twitter?

Gerade in dem sensiblen Bereich wie Volksverhetzung … schauen wir doch mal:

Volksverhetzung hat den größten Anteil bei den Meldungen.

Meldungen, die sich auf den §130 StGB beziehen, machten im II. Halbjahr 2020 mit 208.550 Meldungen immerhin einen Anteil von 27,59% an der Gesamtheit der Meldungen aus.
Im I. Halbjahr 2021 – wir erinnern uns: insgesamt waren alle Meldungen moderat um 2,4% gestiegen – lag dieser Anteil mit 282.301 (von insg. 774.888) Meldungen bei 36,43%.

Doch obwohl der Anteil an Meldungen nach diesem Paragraphen anteilsmäßig so sehr zulegte … blieb der Anteil an Tweets, bei denen Maßnahmen ergriffen wurden, annähernd gleich, wenn man sie auf die Gesamtmeldungen bezieht:
II. Halbjahr 2020: 18.040 von 755.969 (2,39%) zu
I. Halbjahr 2021: 20.359 von 774.888 (2,62%).

Scheint alles grün und blume zu sein?

Nicht wenn man diese Zahlen in andere Relationen setzt. Wurden im

zweiten Halbjahr 2020 noch 18.040 von 208.550 oder 8,65% nach §130 gemeldeten Tweets bemaßnahmt, waren es im
ersten Halbjahr 2021 bei gestiegenem Anteil (27,59% -> 36.43%) nur 20.359 von 282.301 oder 7,21%.

Hier mal die Zahlen als Grafik, ansonsten findet man sie in den Tiefen der Transparenzberichte, die oben verlinkt sind.

Und ganz aktuell:

Das entspricht in etwa auch dem Empfinden, das viele User in Bezug auf Twitter haben. Uns liegen zahlreiche Berichte darüber vor – und unsere eigene Erfahrung deckt sich damit -, dass viele Meldungen gerade im seit einem Jahr besonders aufschäumenden Bereich „Volksverhetzung“ von Twitter durchgelassen werden. Werden diese dann aber parallel bei Hassmelden gemeldet, werden sie innerhalb kürzester Zeit zur Anzeige gebracht. Hier wäre es interessant, Zahlen von Hassmelden zum Vergleich zu haben. Naja, vielleicht liest ja jemand mit.

Auch mit anderen Paragraphen tut sich Twitter schwer, beispielsweise it dem §140 StGB, Billigung und Belohnung von Straftaten. Das wäre in etwa der Fall, wenn man über einen Mord von Querdenken-Anhängern an einer Tankstelle in einer Art twittert, die dieses Vorgehen gutheißt. Twitter hat damit kein Problem.

Der User hatte mehrere Tweets gemeldet, nach NetzDG, es hat Twitter nicht interessiert. Also diese gut ausgebildete Truppe, die fließend Deutsch spricht und immer wieder geschult wird.

Es läuft also bei Twitter im Bereich NetzDG etwas ganz und gar nicht rund, so scheint es zumindest. Denn dass bei steigenden Vorfällen weniger Tweets von Twitter bemaßnahmt werden, dass hat nicht allein damit zu tun, dass Twitterer „empfindsamer“ geworden sind. Die traurige Wahrheit ist: viele Twitterer fühlen sich so verarscht, dass sie nicht mehr melden, sondern direkt anzeigen und nur frustriert blocken. Doch gefühlt steigt die Zahl der hanebüchenen Holocaustvergleiche und der antisemitischen Ausfälle von Monat zu Monat an. Doch Twitter ergreift weniger Maßnahmen. Da verwundert es nicht, dass es zu solchen Meldungen kommt:

Eine deutsche Influencerin vergleicht angebliche Corona-Maßnahmen mit dem Dritten Reich und impliziert, es gebe Gaskammern für Andersdenkende. Twitter reagiert erst gar nicht und dann nur halbherzig.

https://netzpolitik.org/2021/holocaust-verharmlosung-wie-twitter-dabei-scheiterte-bei-antisemitismus-durchzugreifen/

Man hätte mindestens einen relativen Anstieg vermutet. Aber nö, halbiert. Da nützt auch alles „eskalieren“ nichts, Twitter möchte das NetzDG nur so ein bisschen vornean behandeln. Die Leute bei Twitter denken, bisschen schwanger ginge auch.

Ist aber nicht so, und es ist durchschaubar. Denn die Wahrheit ist: Twitter liebt den Disput. Twitter braucht die Kontroverse. Twitter will euch auf 180, denn das bedeutet Klicks, empörte Retweets sind Butter auf der Stulle von Jack Dorsey und den Shareholdern.

Deswegen auch der „Safety Mode“. Der erlaubt es Twitter, den Schutz vor Hate Speech wieder zurück auf die User zu verlagern. Denn:

So sollen Nutzer einen Safety-Mode erhalten, in dem sie sich gezielter vor Hatespeech und unerwünschten Inhalten schützen können. Gleichzeitig ist sich das Unternehmen dem Vernehmen nach darüber bewusst, dass man beim Erkennen „unangemessener Konversation“ und beim Durchsetzen von Löschanträgen nicht immer das richtige Maß haben könne.

https://t3n.de/news/twitter-monetarisierung-bitcoin-safety-schutz-spaces-1410061/

Sie verkacken, sie wissen es und sie haben keinen Bock, etwas zu tun dagegen. So könnte man es zusammenfassen. Und das eben auch in Deutschland mit seiner komplizierten Geschichte und den darauf beruhenden komplizierten Gesetzen. Das reicht nicht.

Dass Deutschland bei Twitter mit seinen knapp 5 Millionen Usern so überhaupt keinen Stellenwert hat, sollte jedem Nutzer klar sein. Dass Hass und Hetze in Sozialen Netzwerken von den Betreibern gewollt ist, weil es die Leute, euch, bei der Stange hält, weiß man seit den Leaks der Facebook-Reports. Das ist nicht nur bei Facebook so, geht davon aus, dass es bei Twitter genauso ist.

Damit kann man leben, wenn man damit leben möchte, aber es ist nicht sonderlich schön. Denn längst schon spiegelt dieser Vogelkäfig nicht mehr die Realität dessen wider, was unsere Gesellschaft ausmacht, denn die Anteile an Hate Speech in Sozialen Netzwerken ist höher als in der Realität, die Verrohung der Sprache eklatanter.

Twitter ist ein Hating-Tool für die einen, ein Dauerempörungswerkzeug für manchen anderen. Warum? Weil es allzu leicht ist, unter dem Deckmäntelchen der Anonymität mal eben einen „rauszuhauen“, was man sich in der Öffentlichkeit sonst nicht trauen würde.

Eines ist Twitter schon lange nicht mehr: ein Kommunikationstool. Das hat Jack Dorsey vor langer Zeit vergeigt. Und sozial ist es auch nicht. Und so bleibt ein Netzwerk im Käfig mit vielen braunen Vögeln am Boden, die eigentlich nicht fliegen können und den Boden der Voliere vollkacken, bei denen aber das Futter steht, vielen grauen Spatzen, die lauthals piepen und herumflattern und kein Problem haben, bei den Braunpiepern auf dem Kopf zu landen, und vielen einstigen Paradiesvögeln in schön bunt, die bei jedem Versuch, Futter zu holen Federn lassen müssen.

Jack, Dein Vogelkäfig ist ein Schweinestall. Bleibt abzuwarten, wie lange sich die bunten Vögel noch rupfen lassen, bevor sie sich ihrer Freiheit bewusst werden und mit ihren Nestern in neue Brutgebiete davonflattern, in solche ohne Käfig, in denen man nicht von Aasgeiern zerzwitschert wird.


Update 19.10.21, 02:00 Uhr

Tweet zum gelben Ungeimpft-Stern eingebaut.