Kategorien
Hintergründe

Was steckt hinter dem „Absprechen” der Souveränität der Bundesrepublik Deutschland?

Die Verschwörungserzähler, die uns einreden wollen, die Bundesrepublik Deutschland sei kein souveräner Staat, befände sich noch im Krieg und wäre insgesamt nur ein Büttel ausländischer Eliten, wollen Unsicherheit und Zweifel an unserem eigenen Land hervorrufen. Sie behaupten, nichts in den letzten Jahrzehnten wäre rechtmäßig, alles wäre nur Lüge. Eigentlich würden wir uns noch im Deutschen Reich befinden. Und damit befinden wir uns in der typischen Argumentation der Reichsbürger.

Die Reichsbürger verneinen die rechtmäßige Existenz der Bundesrepublik Deutschland. Ihrer Meinung nach befinden wir uns nach wie vor im Deutschen Reich, wahlweise im 3. Reich, der Weimarer Republik oder sogar im Kaiserreich. Aber egal welcher Zeitepoche sie sich zugehörig fühlen, ihnen allen ist gemeinsam: Sie lehnen die demokratische Grundordnung der Bundesrepublik Deutschland ab. Auch Rechtsextremisumus und Antiseminitismus zählt durchaus zum Weltbild.

In Zeiten der Corona-Pandemie ist es diesen Anhängern eines totalitären Staatswesen gelungen, die Ängste der Menschen zu instrumentalisieren und für sich zu nutzen. Verstärkt sehen wir Fahnen, die aus der Kaiserzeit stammen, so die Reichsflagge wie auch die Reichskriegsflagge. Diese werden von einem Teil der Reichsbürger als „Ersatz” für die verbotenen Symbole des NS-Regimes genutzt, da sie strafrechtlich nicht verboten sind. Forderungen nach einer Rückkehr zum Kaiserreich von 1871 werden lauter, denen sich – leider – auch ein Teil der Corona-Leugner anschließen, die zuvor niemals politisch aktiv waren. Ob sie nicht erkennen oder nicht erkennen wollen, dass sie von einer Strömung benutzt werden, die ihre Ängste und Unsicherheiten ausnutzt, um sie auf die Seite der Reichsbürger und Rechtsextremisten zu ziehen?

Aber schauen wir uns das geforderte Kaiserreich von 1871 mal näher an:

Wir befinden uns in der Monarchie des Deutschen Reiches. 1871 tritt erstmals eine gemeinsame Verfassung in Kraft, der Nationalstaat Deutschland entsteht – eine konstitutionelle Monarchie. Bismarck wird der erste Reichskanzler.

Die Reichsverfassung enthält keinen Grundrechtsteil, d.h. die Beziehungen zwischen Bevölkerung und Staat sind nicht geregelt. Man spricht von Untertanen. Im Gegenzug werden dem Adel erhebliche Sonderrechte eingeräumt.

Der Kaiser ernennt den Reichskanzler und hohe Staatsbeamte. Eine Kontrolle oder Mitsprache durch die Bevölkerung findet nicht statt. Der von ihm ernannte Reichskanzler ist gleichzeitig Außenminister und steht dem Bundesrat vor. Der Reichskanzler kann nicht gewählt oder abgewählt werden.

Als Kontrollinstanz für Bundesrat, Reichskanzler und Regierung (dem Reichskanzler unterstellte Staatssekretäre) dient das Reichsparlament. Allerdings konnte der Bundesrat das Parlament jederzeit auflösen.

Ausschließlich der Reichstag wurde durch Wahlen bestimmt. Wahlberechtigt waren Männer ab 25 Jahren. Das Frauenwahlrecht wurde erst nach dem Ersten Weltkrieg im November 1918 eingeführt.

Ein Sozialversicherungssystem gibt es 1871 nicht, also keine Krankenversicherung, keine Arbeitslosenversicherung, kein Rentensystem. Diese kommen erst Jahre später. Auch eine Unfallversicherung ist nicht existent.

In den Jahren ab 1871 wandelt sich Deutschland vom Agrarstaat zum Industriestaat. Das Wirtschaftssystem ist liberal, Unternehmer besitzen feudalistische Privilegien. Fabriken mit Fliessbändern entstehen, die Arbeiterklasse wächst zahlenmäßig an. Da es keine Sozialsysteme gibt, sind die Arbeiter unversichert. Wer seine Arbeit verliert, fällt der Armenfürsorge anheim. In den Städten entstehen Mietskasernen mit bis zu fünf Hinterhöfen. Die ersten Gewerkschaften sind entstanden, haben aber – noch – keinen Einfluss (1878 werden sie durch Bismarck auch wieder verboten).

Eine allgemeine Schulpflicht für das gesamte Deutsche Reich gibt es nicht. In vielen Regionen werden Kinder zur Arbeit herangezogen. Schulpflichtgesetze waren reine Absichtserklärungen, die regional bis in das 20. Jahrhundert hinein nicht durchgesetzt werden konnten.

Wir reden also von einer Zeit, in der feudalistische Eliten und Unternehmer enorme Privilegien besassen. Eine Zeit, in der Wahlen eine untergeordnete Rolle spielen, da die Hauptakteure nicht auf Wahlstimmen angewiesen waren. Eine Zeit, in der es weder Sozialversicherungssysteme gab noch staatliche Absicherung für Arbeiter gab. Eine Zeit, in der die dunklen Hinterhöfe entstanden und in der Armut zum täglichen Leben gehörte. Eine Zeit, in der Frauen weder wählen durften noch das Recht auf freie Berufswahl hatten oder zu einem Studium zugelassen werden mussten und vielfach früh heirateten, um möglichst versorgt zu sein.

Das ist das Jahr 1871, das uns da schmackhaft gemacht werden soll. Wollen wir das wirklich?

So nebenbei: Im Jahre 1874 wurde im Deutschen Kaiserreich die Impfpflicht gesetzlich eingeführt und die Impfung gegen die Pocken auch mit polizeilichem Zwang durchgesetzt.