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Fretterode, Thüringen

oder wie Richterin Andrea Kortus vom Landgericht Mühlhausen militanten Neonazis einen Freibrief erteilt

Rechtsprechung läuft nicht immer so ab, wie man es sich wünscht. Es gibt den dummen Spruch „Recht haben heißt nicht Recht bekommen“, aber in einem Strafprozess geht man doch ein Stück weit von Sorgfalt auf Richterseite aus.

Heute ging der Prozess gegen Gianluca Bruno und Nordulf Heise zu Ende. Die beiden hatten am 29. April 2018 in Fretterode zwei Journalisten verfolgt und brutal angegriffen, die zu einem Neonazi-Treffen recherchierten und Fotos machten. Bruno und Heise wollten die Journalisten vertreiben, weil sie fotografierten. Sie verfolgten sie mit dem Auto, drängten sie von der Fahrbahn, schlugen die Scheiben ein. Ein Journalist wurde mit einem Schraubenschlüssel auf den Kopf geschlagen, dem zweiten fügten sie eine Stichwunde im Oberschenkel zu.

Die Staatsanwaltschaft hatte Bruno und Heise Sachbeschädigung, gefährliche Körperverletzung und schweren Raub vorgeworfen, forderte für den jüngeren der beiden Angeklagten eine Jugendstrafe von einem Jahr und neun Monaten auf Bewährung, für den älteren der beiden eine Freiheitsstrafe von drei Jahren und vier Monaten.

Nach mehr als 30 Verhandlungstagen verurteilte das Landgericht in Mühlhausen Nordulf Heise, der zum Tatzeitpunkt als »Heranwachsender« galt, nun lediglich wegen Sachbeschädigung und gefährlicher Körperverletzung zu 200 Arbeitsstunden. Der zum Tatzeitpunkt volljährige Gianluca Bruno erhielt eine Bewährungsstrafe von einem Jahr.

Sorgfalt.

Andrea Kortus war nicht sorgfältig. Wundert nicht. Auch die Polizei war im Fall des Angriffs von Gianluca Bruno und Nordulf Heise auf Journalisten nicht eben sorgfältig. Bei einer anberaumten Durchsuchung des Anwesens, das der Familie des bekannten Neonazi-Kaders Thorsten Heise gehört – Nordulf ist sein Sohn -, haben die beiden Polizeibeamten vor dem Anwesen der Tatverdächtigen zwei Stunden verstreichen lassen, bis sie mit der Durchsuchung begonnen haben. Im gesamten Durchsuchungszeitraum hätten sie zugelassen, dass aus dem Täterfahrzeug diverse Personen über mehrere Stunden etliche Gegenstände entnehmen und hineinlegen konnten, kritisierte Nebenklage-Anwalt Sven Adam im Hauptprozess. Die Durchsuchung wurde denn auch nur in einem von zwei Häusern auf dem Anwesen durchgeführt, und zwar nicht in dem des Tatverdächtigen Neonazi-Sprosses Nordulf Heise.

Kein Wunder also, dass eine den Journalisten geraubte Spiegelreflex-Kamera nicht gefunden wurde – was Richterin Andrea Kortus veranlasste, „schweren Raub“ gleich mal von der Anklageliste zu streichen. War ja nicht nachzuweisen, glaubt sie zu wissen.

Doch sie weiß noch mehr, meint sie. Sie weiß, dass Rechte gerne Linke „Zecken“ nennen … und spricht dann selbst von „sogenannten Neonazis“. Denn „Zecken“, das ist in den Augen der Vorsitzenden Richterin am Landgericht Mühlhausen Andrea Kortus ein geläufiger Begriff, der keinen Rückschluss auf die politische Gesinnung der Täter zulasse. Deswegen, so behauptet sie gelassen, sei es nicht klar, ob die Angeklagten wussten, dass es sich um Journalisten handelte.

Und dann, so ihr Kalkül, dürfe man dies eben nicht als ungleichen Angriff sehen, bei dem ein Journalist mit einem Schraubenschlüssel geschlagen wurde und ein zweiter einen Stich in den Oberschenkel abbekam, sondern müsse es als gleichen Kampf von Kontrahenten auf verschiedenen Seiten des politischen Spektrums sehen.

Sie sprach von „zwei ideologischen Lagern“, die „weit auseinander liegen“. Deswegen sei es kein Angriff auf die Pressefreiheit. Und welches der beiden Andrea Kortus näher ist, das merkte man auch durch die Tatsache, dass sie fast der Meinung war, Nordulf Heise sei das Opfer gewesen. Schließlich sei es um seine Persönlichkeitsrechte gegangen. Und sie glaubte ihm, dass er die beiden Journalisten für „gewaltbereit“ hielt. Sie glaubte ihm vieles, dem „sogenannten Neonazi“. Sie glaubte ihm die brave Bürger-Inszenierung. Sie glaubte, die von der Nebenklage als halsbrecherische Verfolgungsjagd, Stoßstange an Stoßstange, geschilderte Hatz sei gar nicht so gewesen, er habe sich an die Verkehrsregeln gehalten. Sie glaubte ihm die Mär von der Notwehr – die kein Hinterherfahren und Verfolgen rechtfertigen würde, auch nicht, wenn man das Recht am eigenen Bild durchsetzen will.

Täter-Opfer-Umkehr … das kennen wir schon aus der Region der Republik. Doch ganz so weit ging sie dann doch nicht, die Andrea Kortus. Nicht bei dem „sogenannten Neonazi“. Nicht hier.

Neonazi?

Thorsten Heise, Nordulfs Vater, war früher in der FAP, trat als Kandidat der NPD bei Wahlen an. Heise ist mehrfach vorbestraft wegen schwerer Körperverletzung, Landfriedensbruchs, Nötigung und Volksverhetzung sowie Verwendens von Kennzeichen verfassungswidriger Organisationen. Thorsten Heise schoss mit einer Gaspistole auf Schüler, versuchte, einen libanesischen Flüchtling mit dem Auto zu überfahren. Auf seinem Anwesen findet man das Denkmal für die Waffen-SS, eine Art Wallfahrtsort für Neonazis, dort hält er auch regelmäßig Treffen der Kameradschaft Northeim und der neu gegründeten und ebenfalls von ihm geführten Kameradschaft Eichsfeld ab.

Das ist die Umgebung, in der Nordulf aufwuchs.

Für Andrea Kortus ist aber alles ganz doll schicki. Sie redet davon, dass es immer „Aktivitäten“ um das Anwesen gegeben habe, diese Aktivitäten ordne die Bevölkerung „Fahrzeugen mit Göttinger Kennzeichen“ zu. Die Polizei sei Streife gefahren, weil das Anwesen gefährdet sei. Thorsten Heise hatte zuvor in Göttingen gelebt, die Göttinger gefährdeten sein Anwesen sicher nicht. Aber Kortus sagt, in dieser Atmosphäre sei der Angeklagte Nordulf Heise aufgewachsen. Ihm sei auch bekannt gewesen, dass Bilder und Fotos gemacht würden, die für „Fahndungsaufrufe“ im Internet genutzt würden. So schildert sie es laut Aussagen von Prozesszeugen.

Und deswegen ist sie vielleicht der Meinung, dass man den Prozess hätte auch andersherum führen können. Schließlich redet sie von der Fahrerflucht der Journalisten, sie glaubt, diese hätten die beiden Neonazis überfahren wollen.

Die Nebenklägervertreter haben sich in einer ersten Stellungnahme wie folgt geäußert:

Die mündliche Urteilsbegründung ist ein Schlag ins Gesicht der beiden Nebenkläger, denen offenbar ebenso viel oder wenig Glauben geschenkt wird wie den umfangreich widerlegten Aussagen der angeklagten Neonazis.

Dabei waren es die Nebenkläger, die

als einzige an diesem Tag erheblich verletzt worden, sie sind es, die Beweise vorgelegt haben für die Tat, sie sind es, deren Aussagen von unbeteiligten Zeuginnen und Zeugen und gehörten Sachverständigen bestätigt wurden und die die Aussagen der Angeklagten widerlegt haben.

Der zweite Nebenkläger-Vertreter ergänzt:

Das Urteil ist ein Skandal und ein fatales Zeichen an die militante Naziszene, die sich insbesondere in Thüringen offenbar nahezu alles weitgehend ungesühnt erlauben darf. Das Gericht spricht gar mehrfach von „Kontrahenten“ in der mündlichen Urteilsbegründung. Als hätte eine „kämpferische Auseinandersetzung“ von beiden Seiten stattgefunden. Eine infame Verharmlosung der Tat. Die Nebenkläger sind geflohen, gejagt worden, haben niemanden angegriffen, sind abstrakt lebensbedrohlich verletzt worden. Vor diesem Hintergrund kann man das Urteil nur als krasse Verkennung der Sachlage beurteilen.

Eine krasse Verkennung der Sachlage. Nun, in Thüringen ist sowas nicht ungewöhnlich. Auch Andrea Kortus spricht davon, dass die mediale Vorverurteilung dazu geführt habe, dass das Urteil milder ausfalle. Ist alles nicht neu. Schon beim Überfall von Rechten auf die Kirmesgesellschaft in Ballstädt und den milden Urteilen trotz schwerer Verletzungen war dies zu hören. Damals hieß die Richterin Sabine Rathemacher, ein anderes Gericht, selbes Bundesland.

Dem Redaktionsnetzwerk Deutschland sagte Nebenklägervertreter Adam:

Selbst wenn man unterstelle, dass die Angeklagten der Überzeugung gewesen seien, politische Gegner und keine Pressevertreter anzugreifen, sei das Urteil noch immer viel zu milde. Das Urteil verharmlose eine Gewalttat und sei „entsetzlich“.

https://www.rnd.de/panorama/neonazis-attackierten-journalisten-heftige-kritik-an-urteil-aus-thueringen-MNZQW73KAURIT7QTYVAQRHB2TE.html

Bei der heutigen Urteilsbegründung verließen einer der Nebenkläger und später einige Zuschauer aus Protest den Verhandlungssaal. Die Thüringer Justiz hat es heute erneut versäumt, Gewalttätigkeiten von Neonazis adäquat zu bestrafen. Und damit stellte heute Richterin Andrea Kurtos den rechten Demokratiefeinden schon fast einen Freibrief für Gewalt aus. Nicht nur gegen Journalisten, sondern auch gegen Linke „Kontrahenten“.

Rechtsprechung läuft nicht immer so ab, wie man sich das vorstellt. Aber in Thüringen hat man ganz eigene Vorstellung davon, was Rechtsprechung gegen Rechts bedeutet, so scheint es.

Die Prozessbeteiligten haben eine Woche Zeit, Revision einzulegen.

„Wer gegen Nazis kämpft,
kann sich auf den Staat nicht verlassen.“

Esther Bejerano, Holocaust-Überlebende

Update 16.09.

Heute hat die Staatsanwaltschaft einen Antrag auf Revision gestellt, da es ein Strafverfahren ist, das am Landgericht verhandelt wirde, ist direkt der BGH zuständig. Das Urteil soll vom Bundesgerichtshof in höherer Instanz geprüft werden.

Beim MDR heißt es dazu:

Die Staatsanwaltschaft habe Zweifel am Urteilstenor und demzufolge am Strafmaß. Auch seien die politischen Motive der 23 und 28 Jahre alten Angeklagten aus der rechtsextremen Szene nicht berücksichtigt worden. Die Staatsanwaltschaft sei der Überzeugung, dass die Kamera der beiden Geschädigten von den Angeklagten weggenommen wurde und sie deshalb auch wegen gemeinschaftlich schweren Raubes zu verurteilen sind.

https://www.mdr.de/nachrichten/thueringen/nord-thueringen/eichsfeld/fretterode-prozess-revision-staatsanwaltschaft-journalisten-100.html

Auch in der taz heißt es jetzt, dass sich die Nebenkläger der Revision anschließen.

„Wir wollen das Urteil vom Bundesgerichtshof rechtlich überprüfen lassen“, sagte Staatsanwalt Benedikt Ballhausen der taz. Anders als das Gericht ziehe man die Glaubwürdigkeit der angegriffenen Nebenkläger nicht in Zweifel. Auch habe das Gericht die politische Motivation der Angreifer „nicht hinreichend berücksichtigt“.

Sven Adam, Anwalt eines der angegriffenen Journalisten, sprach ebenso von einem „unfassbaren und lächerlichen Urteil“. Noch befinde man sich in Gesprächen und rechtlicher Prüfung. Das Ziel aber sei klar, so Adam zur taz: „Wir wollen uns der Revision der Staatsanwaltschaft anschließen.“

https://taz.de/Revision-zu-Fretterode-Urteil-eingelegt/!5881989/

Update 16.09., 20 Uhr

Ein Kommentar in der FAZ:

Geradezu sprachlos aber macht, wie die Vorsitzende Richterin das Strafmaß begründete: Die beiden Journalisten seien nicht als solche zu erkennen gewesen, vielmehr seien die Angeklagten wohl davon ausgegangen, dass es sich um Vertreter der linken Szene handelt. Und auf die darf man sich nach Ansicht des Landgerichts Mühlhausen offenbar stürzen mit Gebrüll, ohne dass das nennenswerte Folgen hätte.

So jedenfalls dürfte die Schlussfolgerung in der rechtsextremen Szene lauten, deren Vertreter Thüringen ohnehin als eines ihrer Refugien ansehen.

https://www.faz.net/aktuell/feuilleton/skandal-urteil-im-fretterode-prozess-18322185.html